HISTORIE

Die Geschichte der Gründung spielt auf einem — die Legende erzählt »verwahrlosten« — Fußballplatz in St. Vith, Ostbelgien, im Frühling 1980. Eine Gruppe von etwa 30 jungen Menschen kam dort zusammen. Marcel Cremer hatte die Begegnung initiiert, es sollte etwas anfangen. Ziel und Ausgang der Unternehmung waren ungewiss. Die nicht geglückten revolutionären Bewegungen der damals jüngsten Geschichte lähmten die jungen Leute nicht, sie verstanden sich in der Kontinuität der egalitären und autoritätskritischen Impulse dieser Bewegungen. Und sie waren jung und unruhig und suchten nach einem gemeinsamen Sinn, einem Handeln, einem Anfang. »Was tun?« Eine Partei gründen? In den Untergrund gehen? Sich bewaffnen? Eine hat dann wohl ihren Pullover ausgezogen und eine andere hat den Pulli zu einem Ball geknotet. Mit dem »Nicht Ball« Ball spielen, das war der Anfang von etwas nicht Erwartetem. Das Spiel, das Miteinander, die Neugier auf den oder die oder das Andere, das Behaupten eines eigenen fantastischen Gegenweltpotenzials – das war es, was sie im Ballspiel mit dem Pullover-Ball fanden. 


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Unter der künstlerischen Leitung von Marcel Cremer wurde aus dieser Gruppe das AGORA Theater. Marcel Cremer ist in Crombach geboren und in St. Vith zur Schule gegangen. In Lüttich studierte er Niederlandistik, Germanistik und Theaterwissenschaft. Er schloss mit einer Arbeit über den deutschen Dramatiker und Regisseur Heiner Müller ab. Während seiner Studentenzeit war Marcel als Schauspieler und Regisseur im politisch engagierten Studententheater um Robert Germay aktiv. Zurückgekommen nach St. Vith wollte er als Lehrer arbeiten. Er wurde ein Lehrender und ein Lernender, ein visionärer Theatermensch, Autor und Regisseur, der immer einen Bezug zu seiner Herkunft hatte und der das AGORA Theater in St. Vith verortete und zu einem professionellen Ensemble entwickelte. 

Als Ostbelgien wird das Gebiet im Osten Belgiens bezeichnet, dessen Bevölkerung überwiegend deutsch spricht. Die ostbelgischen Kantone wechselten verwirrend oft ihre politische Zugehörigkeit. Die Region war im Lauf der Geschichte immer wieder Schauplatz politischer Kämpfe. Die Ardennenoffensive als wohl berühmtestes Ereignis jüngerer Geschichte hat in der Kleinstadt Sankt Vith starke Spuren hinterlassen. Weihnachten 1944 zerstörte ein Bombenhagel quasi die gesamte Stadt. Marcel Cremers Inszenierungen trugen die Spuren dieser Geschichte. Innerhalb von 30 Jahren sind 36 Inszenierungen unter seiner Regie entstanden.

Die deutsche Sprache galt im Ostbelgien der Nachkriegszeit als Index für Verrat oder Treue, für Zugehörigkeit oder Fremdheit, für die Sieger oder die Verliererseite. Wie leben, ohne sich selbst zu verraten? Was kann verhandelt werden, ohne damit sich selbst und die eigene Identität in Frage zu stellen? Welche Leidenschaft kann artikuliert werden, wie darf sie ausgesprochen werden, woran soll sich diese Frage messen? Was soll verloren gegeben werden, um vielleicht anderes, wichtigeres zu gewinnen? Marcels Arbeit gründete auf der Überzeugung, dass die Stärkung deutschsprachiger Kultur keinen Widerspruch beschwören muss, der sich gegen andere kulturelle Identitäten richten würde. Im Gegenteil: indem er die Themen seiner Heimat durcharbeitete, machte er die Arbeit der AGORA zu einem Labor für größere Fragen des Zusammenlebens.

 

Mit seiner Kunst versuchte Cremer auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren. Die Inszenierungen der AGORA fokussierten von Beginn an auf die Kopräsenz, die Interaktion zwischen zwei anwesenden Gruppen: die Zuschauenden und die Spielenden. Aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive ist das nichts Neues, aus dem Blick der Theaterschaffenden jedoch schon.

 

Um diesen Moment zu kreieren, setzte Marcel Cremer nicht auf den professionellen Hintergrund der Spielenden, sondern auf deren subjektives und subjektiviertes Material. Professionalität im Sinne eines professionellen Bühnenresultates war in Marcel Cremers Welt keine Frage der schauspielerischen Ausbildung oder der Technik der Spielenden. Das persönliche Wissen und die Erfahrungen aller am Prozess beteiligten Personen bildeten – und bilden in der Arbeit der Agora heute immer noch – den zentralen Punkt für die Entwicklung der Inszenierung. So erhielten – und erhalten – alle Beteiligten nicht nur eine Teilhabe, sondern auch eine Mitverantwortung und Kompetenz im Hinblick auf das Ergebnis. Jede:r Spieler:in hat nicht nur die Aufgabe eine Rolle darzustellen, sondern auch sich selbst zum Thema, zu den Figuren, zur eigenen Rolle und zur Handlung zu positionieren.

Vielleicht geht es bei der Frage nach Kontinuität jeweils um die Frage nach der passenden, heute notwendigen Form der Auseinandersetzung. Darum, immer wieder die Risiken und Unvorhersehbarkeiten auf sich zu nehmen, die sich im Moment des Anfangens ankündigen. Vielleicht geht es darum, die Mängel zu zeigen, die uns buchstäblich angehen, unsere Zeit heimsuchen, wie einst der Geist des Vaters Hamlet heimsuchte. Diese Begegnung verlangt Mut. Den Mut zu handeln. Etwas anzufangen, ohne wissen zu können, wo es endet.

 

Es geht, immer wieder, immer neu, um eins: um Anfänge.