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29.09.2016
Im Gespräch mit Kurt Pothen, Künstlerischer Leiter des AGORA Theaters
Marie-Josée Cremer und Helga Kohnen

am Freitag, 25 September 2015

 

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MJ: Kurt, du bist künstlerischer Leiter, du bist Regisseur und du bist Spieler. Worin besteht die Arbeit, die du in der AGORA machst? Sie ist so komplex, so vielfältig dass ich mir deinen Alltag konkret nicht vorstellen kann.
K: (lacht) Der ist zum Glück sehr unterschiedlich. Das ist ja auch das Schöne an dieser Arbeit.
Seit ich mit 18 angefangen habe, bei der AGORA Theater zu machen, war jeder neue Tag anders als der vorherige. Und das hat sich im Wesentlichen nicht sehr verändert. Wobei sich in meinem Betätigungsfeld im Laufe der Jahre so ziemlich alles verändert hat. Am Anfang war ich reiner Spieler, habe nebenbei noch Abitur gemacht und studiert. Nachher habe ich mich sehr für die Technik interessiert und beim TheaterFest auch eine gewisse Form von „technischer Leitung" übernommen, zumindest habe ich das viele Jahre gemacht. Und ich bin LKW gefahren. Aber da lag doch das Hauptaugenmerk im Spielen; 90% meiner Beschäftigung war das Spielen. Das wird es auch immer sein, dachte ich.
Ist es aber nicht geblieben. Weil nach dem Tod von Marcel schnell klar wurde, dass es nicht so einfach ist, plötzlich mit anderen Menschen Theater zu machen, wenn man 25 Jahre lang mit einem Regisseur Theater gemacht hat. Es war kein Problem mit Fatma den „König ohne Reich" zu Ende zu machen. Im Gegenteil, das war eine sehr interessante und spannende Arbeit, das, was Marcel mit uns begonnen hatte, zu Ende zu bringen. Aber da hat sich schon rausgestellt, dass es für mich nicht so einfach sein wird, in neue Projekte innerhalb der AGORA als Spieler einzusteigen.


MJ: Was war die Schwierigkeit?
K: Ich kannte nur die Arbeitsweise mit Marcel. Und in den Gesprächen mit den anderen Regisseuren - ich war ja schon Künstlerischer Leiter zusammen mit Roger und hatte mit Claus und mit anderen Regisseuren, von denen wir uns vorstellen konnten, dass sie innerhalb der AGORA eine Regie übernehmen könnten, gesprochen - habe ich festgestellt, dass es für mich wahrscheinlich nicht leicht wird, den Bedürfnissen gerecht zu werden, die ein anderer Regisseur an mich stellen würde. Weil ich dieses Metier nie offiziell in einer Ausbildung erlernt habe; ich habe nie Schauspiel studiert. Ich habe nicht dieses Fundament. Wobei ich von mir behaupten würde, dass ich ein sehr großes Fundament habe nach 20 Jahren Arbeit mit Marcel. Aber es ist was anderes, denke ich, weil es so fokussiert war auf seine Arbeitsweise und auf seine Regieführung. Ich habe es nie probiert, deshalb ist alles nur Theorie. Aber ich habe mich dafür entschieden, in kein neues Projekt mehr als Spieler einzusteigen und mich voll und ganz auf die Arbeit als Künstlerischer Leiter zu konzentrieren.


MJ: Es war keine Entscheidung gegen etwas, sondern für etwas?
K: Es war eine Entscheidung für etwas. Auch weil ich gemerkt habe, sie muss neu erfunden werden, diese Position als Künstlerischer Leiter innerhalb der AGORA. Weil Marcel in dieser Funktion alles war: Regisseur, Autor, Gründer, Entwickler einer Methode. Er hat alle Funktionen inne gehabt, die die neue Künstlerische Leitung niemals in einer Person bündeln kann. Das heißt, die Künstlerische Leitung der AGORA muss die Verantwortung übernehmen, ihre Aufgabe im Sinne des autobiographischen Theaters - so wie wir es ja in unserem Engagement, in unserem Manifest geschrieben haben - bestmöglich umzusetzen. Da gab es Diskussionen, ihr erinnert euch. Am Anfang gab es ja unterschiedliche Positionen im Forum. Die einen sagten, auf keinen Fall mit auswärtigen Regisseuren zusammen arbeiten, wir sollten alles intern behalten. Wir sollten ein Künstlerisches Leitungsteam von 3 - 4 Leuten bilden. Oder sogar ein Kollektiv gründen. Alle diese Diskussionen standen ja im Raum. Und das Mandat der Künstlerischen Leitung bestand auch darin, unter all diesen Vorschlägen, die im Raum standen, zu entscheiden und diese Entscheidung umzusetzen.
Das sage ich jetzt aus der Distanz betrachtet. Sehr viel ist sehr intuitiv passiert in der ersten Zeit. Aber trotzdem war es so, dass - wenn auch nicht unbedingt im Widerstand, so doch gegen die Meinung einiger AGORA Mitglieder - Roger und ich als Künstlerische Leiter entschieden haben, mit auswärtigen Regisseuren zusammen zu arbeiten. Gleichzeitig aber auch Fatma, die die Regie vom „König ohne Reich" übernommen hatte, zu bitten, wieder über ein neues Projekt nachzudenken.

 

MJ: Aus welchem Grund habt ihr euch entschieden, auswärtige Regisseure reinzuholen?
K: Ich denke, niemand innerhalb der AGORA hatte die Kompetenz entwickelt, Regie zu führen, so wie es Marcel gekonnt hatte. Es gab keinen Regisseur neben Marcel in der AGORA. Das war der Hauptgrund. Und Claus war jemand, der Marcel sehr nahe stand und der AGORA nahe steht; der unter Marcel gespielt hat, weil Marcel bei Marabu Regie geführt hatte; der seine Arbeit auf mehreren Ebenen kennen gelernt hatte und der sich darauf einließ, dass die erste Woche - die Einstiegswoche in ein Stück - nicht von ihm selber gestaltet wurde, sondern von jemandem, der über lange Zeit die Methode des Autobiographischen Theaters kennen gelernt und auch erlernt hatte, in diesem Fall von mir. Das waren die Hauptkriterien. Und es gab einige Kollegen, vor allem in Deutschland, die Claus eindringlich davor gewarnt hatten, das zu machen. Weil sie sagten, dass jeder, der innerhalb der AGORA in die Fußstapfen von Marcel tritt, unweigerlich scheitern wird. Aber Claus hat das Gegenteil bewiesen. Da ist ein Modell aufgegangen, auch intuitiv aufgegangen. Wir hatten gesagt, wir probieren das: dieses Experiment, dass Claus arbeitet, wie die AGORA arbeitet; dass er nicht mit einem fertigen Regiekonzept ankommt, sondern dass er sagt, wir entwickeln dieses Konzept gemeinsam, wir vertrauen auf die erste Woche, wir vertrauen auf die Autobiographische Methode. Und es hat funktioniert. Das heißt auch, dass Marcels Methode stark genug ist, ohne ihn weiter zu leben.


H: Das festzustellen war auch für die AGORA eine wichtige Erfahrung.
K: Auf jeden Fall. Ich weiß nicht, wie sich die AGORA weiterentwickelt hätte, wenn das gescheitert wäre.
Ich möchte eines nicht unterschlagen. Das erste Stück war nicht „Kohlhaas". Das erste Stück nach dem „König" war „Nebensache". Damals habe ich gesagt: Das ist die neue Situation der AGORA. Der große Agora Apparat fährt noch mal runter und startet von da an neu. Wir nehmen ein existierendes Stück, von dem wir alle wussten, dass Marcel es geliebt hat - es hätte aus seiner Feder stammen können vom Konzept her. Marcel hat es ja in allen Varianten aufs Festival eingeladen. Es war Rolands Idee, dieses Stück zu machen und zu sagen, wir verzichten auf alles, auch auf Technik, auf Licht, auf Theater, auf Bühne. Wir entwickeln dieses Stück und gehen damit nach draußen, in die Schulen.


MJ: Wie hast du das als Regisseur erlebt? Es war ja deine erste Regiearbeit, nach Marcels Tod. Wie bist du es gefühlsmäßig angegangen? Wie hast du dich methodisch vorbereitet?
K: (lacht) Ich habe das total ernst genommen und sehr intensiv betrieben. Ich hatte ganz andere Vorstellungen. Roland und ich, wir sind natürlich weggefahren, zu zweit. Aber es ist was anderes, wenn man zu zweit wegfährt, als wenn man zu mehreren in einem Ensemble mit fünf, sechs, sieben Menschen startet. Wir haben mit den persönlichen Geschichten gearbeitet. Wir haben versucht, neue Wege zu finden, diese Nebensache-Geschichte zu erzählen. Bis hin zur Grundidee, die ich mitgebracht hatte, diese Geschichte nicht mit den klassischen Figuren zu erzählen, sondern mit Sachen, die die Kinder dabei haben, z.B. der Schuh ist das Haus,... - bis Claus Overkamp, dem ich das alles erzählt hatte, sagte, „Kurt, das Stück ist unter anderem so erfolgreich, weil es so ist, wie es ist. Versuch nicht dieses Stück neu zu erfinden."
Und dann hat es Klick gemacht im Kopf: Ja, das stimmt. Dieses Stück ist so stark in sich und so aussagekräftig, dass es nicht auf Biegen und Brechen darauf ankommt, neue formale Mittel zu erfinden, sondern dass die Herausforderung darin besteht, sich inhaltlich mit diesem Thema im Jetzt und Heute zu beschäftigen. Das ist auch das, wo ich Marcel wieder ein Stück näher gekommen bin. Wo ich gedacht habe, jetzt hab ich wieder was verstanden. Auch im Sinne von Marcel, der gesagt hatte, die Methode muss sich verändern und weiterleben. Ab dem Moment haben wir uns damit beschäftigt: Was passiert da? Warum passiert das so in der Geschichte? Wie würde das heute sein und wie würden wir heute reagieren? Ganz konkret: Hat dieser Cornelius, dieser auf der Straße lebende Mensch, seinen Bauernhof selber angezündet, bevor die Bank alles an sich reißt, und ist weg? Oder war es ein Unfall?
Das waren spannende Fragen, spannende Herausforderungen, weil es natürlich teilweise mit Widerstand zu tun hatte, sogar mit Terrorismus. Weil auf einmal die eigene Entscheidung ins Spiel kam, zu sagen, ich überlasse mein Leben nicht dem Schicksal, sondern ich entscheide mich für das Leben. Da kamen diese fundamentalen Fragen zum Vorschein, mit denen wir uns beschäftigt haben. Ich muss auch ehrlicherweise sagen, wir sind uns nicht immer einig geworden. Aber trotzdem hatte es sehr großen Einfluss auf die Inszenierung. Und ich behaupte, es hat natürlich mit der spielerischen Qualität Rolands zu tun, aber auch mit der intensiven Beschäftigung mit dem Stück, dass es bisher weit über 400 mal gespielt wurde.


MJ: Und auch Preise bekommen hat, unter anderem in Frankreich.
K: Das Plakat hat einen Preis bekommen. Als eines der schönsten Plakate, die in Avignon zu finden waren. Und „Nebensache" - „Bagatelle" - hatte die höchste Anzahl Sterne im Telerama bekommen. Das ist mehr wert als ein Preis. Weil es eine große Empfehlung einer nationalen Zeitschrift Frankreichs ist, mit einem Maximum an Sternen, die die vergeben können, was nicht oft vorkommt.


MJ: Solche Würdigungen - 400 mal gespielt ist ja auch eine Würdigung - was macht das mit dir? Was bedeutet dir diese Anerkennung?
K: Zuerst mal eine Anerkennung. Das ist natürlich sehr schön. Wir haben ja jetzt mit der „Harmonie der Gefiederten" in Huy diese beiden Preise gewonnen, den „Coup de Coeur" der belgischen Presse und den Preis der Ministerin. Natürlich bin ich total glücklich. Vor allem nach den erfolglosen Aufführungen in Huy mit „Strandgut" und dem „Lügensammler" ist das eine Bestätigung. Das Gefühl, jetzt ist AGORA wieder da, jetzt geht's los. Das freut mich zutiefst. Ich stecke natürlich auch schon immer im nächsten Projekt.


MJ: Du arbeitest bis zur Premiere und dann bist du im Kopf beim nächsten Stück? Welche Bedeutung hat die Präsenz vom Regisseur, wenn die Stücke weiter aufgeführt werden? Auch gegenüber den Zuschauern?
K: Ja, das ist die Frage. Aber es ist nicht zu leisten, ehrlich gesagt, dass ich bei allen Ausfahrten dabei bin.

MJ: Vielleicht hast du zu viele Aufgaben?
K: Das kann sein, das müsste man dann mal herausfinden.
Marcel war auch nicht bei allen Aufführungen dabei. Und das ist auch richtig so.
Wir haben nach der Premiere der „Harmonie", nach den Erfahrungen der ersten Aufführungen, in zwei intensiven Probenblöcken vor der französischen Premiere nochmal gearbeitet. Aber meine Präsenz ist auch unterschiedlich, je nach Stück. Ich werde mit der Harmonie mitreisen, die erste Zeit auf jeden Fall, weil das Stück das braucht und weil die Spieler, denke ich, das auch brauchen. Aber mit Roland jetzt mitzureisen, würde nicht wirklich Sinn machen. Vielleicht jede 50. Aufführung mal anzugucken? Er beschwert sich darüber, dass ich zu wenig sehe.
Und es stimmt auch, dass ich jetzt schon in den nächsten zwei Projekten stecke. Und dass die für mich die Wichtigeren sind - jetzt - muss ich auch sagen. Das Andere geht jetzt seinen Weg und das muss man begleiten. Es hat jetzt eine Phase erreicht, wo der Regisseur, der Einfluss des Regisseurs, sich gelinde gesagt in Grenzen hält. Der kann noch gucken, dass es nicht aus dem Ruder läuft. Aber es ist jetzt an den Spielern, das Stück zu entdecken und die Zuschauer kennenzulernen und im Dialog mit ihnen das noch nicht entdeckte Potential des Stückes zu erfassen. Und da kann ich nur als privilegierter Zuschauer agieren, der dieses Stück entwickelt hat. Aber der jetzt auch Zuschauer ist und guckt und sagt: So, das ist eine Richtung, die geht nicht. Oder: Das ist eine Richtung, wow, das ist super, das ist eine Bereicherung des Stückes. Feedbacks geben und zurückpfeifen oder antreiben. Aber antreiben weniger. Da bin ich sehr einverstanden mit Marcel, der das auch nie gemacht hat. Der nie gesagt hat, guck mal mit deiner Figur in die Richtung oder versuch das mal, oder guck mal da.


MJ: Ah so! Nicht?
K: Nein. Nicht in so direkter Form. Manchmal in indirekter Form (lacht). Weil er der Auffassung war - und davon bin ich überzeugt - nur das, was ich selber entdecke, ist dann auch wirklich Bestandteil meiner Selbst. Und das, was ich vermittelt kriege von außen, ist dann zwar auch da, aber es wird erfüllt. Da war zum Beispiel in der „Harmonie der Gefiederten" ein großer Unterschied zwischen Jean Lambert und mir, auch in der Endphase der Arbeit. Er hat natürlich sehr großen Wert darauf gelegt, dass der französische Text korrekt behandelt wird auf der Bühne. Und dazu gehörte unter anderem eine ganz klare, von ihm vorgegebene Interpretation. Und das war für mich oft an der Grenze. Wo ich gesagt habe, das ist für mich zu viel Eingriff. Auch in die Freiheit des Spielers. Die haben es natürlich geliebt! Ich habe es ja auch oft verflucht als Spieler, das nicht zu kriegen.

MJ: Ist es - pädagogisch gesehen - so: Du wirfst den Motor an, guckst was kommt und dann?
K:
Feedbacks geben.

MJ: Du hast als Regisseur das Gesamtkonzept erstellt. Das heißt, du triffst doch wohl Entscheidungen, irgendwann, inhaltlich.
K: Ich bin in der vorteilhaften Position beide Welten zu kennen. Beziehungsweise die eine gerade kennenzulernen. Und die andere Situation - über 2500 Male auf der Bühne - kenne ich sehr gut. Und jetzt wird mir klar, wie vielfältig, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf die Aktionen sind, die passieren. Ob ich das aus dem Inneren, von der Bühne, erlebe oder von außen, als Zuschauer. Das geht oft sehr weit auseinander (lacht): Die Selbsteinschätzung des Spielers auf der Bühne, was da gerade passiert und das, was ich als Zuschauer sehe! Danach, beim Austausch, kommt das oft sehr stark zutage. Der Spieler sagt, „Mein Gott, ich fühle mich so blöd da". Und du sagst: „Was? Bitte! Das ist hochspannend, was da gerade passiert." Oder er sagt, „Wow, das ist ein Moment, da merke ich, wie stark der ist!" Und du sagst: „Entschuldigung, aber ich habe es nicht gesehen" (Lachen). Das sind Extrem-Beispiele.

MJ: Ich denke, dass du einen differenzierten Blick hast. Ich möchte trotzdem etwas provokant sagen: Es ist ja nicht so, dass jeder Spieler die Figur nur aus seinem persönlichen Inneren heraus erarbeitet. Ich denke, es gibt doch eine Minimum-Vision. Das hört sich sonst an, als ob es die totale Freiheit wäre.
K: Nein. Mein Job ist es, erst einmal dafür zu sorgen, dass sie eine Figur finden. Aber mein Job ist nicht, ihnen zu sagen, welche Figur sie haben. So verstehe ich meinen Job als Regisseur: Die Möglichkeiten bieten, dass sie eine Figur entdecken können. Und dann in beständigem Dialog zu überprüfen, ob das eine Figur ist, die dem Stück dient oder nicht. Also das gilt bei der kompletten Erarbeitung eines Stückes, wie es bei der „Harmonie der Gefiederten" der Fall war. Wenn es eine literarische Vorlage gibt, ist das etwas anderes - dann gibt es eine Vorlage, auch einer Figur. Aber in Eigenproduktionen ist es nicht mein Job, mit fertigen Figuren anzukommen und diese über die Spieler zu stülpen. Und auch nicht umgekehrt. Sondern - bei der „Harmonie" war es so - auf einmal kriegt man einen Blick dafür: Ok, es geht in diese Richtung. Und als Jean den Vorschlag machte, aus den Figuren Ornitosophen zu machen, war zunächst die Überraschung bei uns allen groß. Dann aber zu merken, oh ja, was für ein Potential darin steckt. Nicht nur die Unterschiedlichkeit der Vögel in der Vogelwelt kennenzulernen und zu übertragen auf die Menschen. Sondern auf einmal auch festzustellen, dass diese Eigenschaften total übertragbar sind auf Stereotype innerhalb der Gesellschaft. Und dann zu merken, die Stereotype der Gesellschaft sind auch Stereotype einer Familie, innerhalb der Familie. Also, das kann der Onkel sein, der der Diktator ist in seiner Familie. Und das kann die Cousine sein, die schüchtern ist und mit 35 immer noch unverheiratet. Auf einmal entsteht gleichzeitig ein gesellschaftlicher Kosmos in einem familiären Kosmos in so einem Vogelkäfig-Mikro-Kosmos. Das war ein spannender Prozess, diesen Weg zu verfolgen und dann natürlich darauf zu achten, dass sich die Figuren nicht verwaschen. Auch Spaß daran zu erzeugen, mal eine ekelhafte Figur zu entwickeln oder einen schlechten Charakter herauszuarbeiten. Kann ja unheimlich Spaß machen, meist sogar mehr, als den Heiligen zu spielen auf der Bühne.
Aber da - und das ist die Arbeit des Regisseurs zusammen mit der des Autors - zu gucken, dass es einen möglichst breiten Horizont zu entdecken gibt für den Zuschauer, dass es ein breites Feld gibt. Gleichzeitig aber auf eine Stringenz in der Entwicklung der Figuren achten, die im Zusammenspiel etwas erzählen, was über eine Familiengeschichte hinausgeht.


MJ: Kurz noch zum Ensemble. Du bist nicht Animator, du bist klar Regisseur. Wie würdest Du das umschreiben? Siehst du dich als Partner des Ensembles, wenn du die Regie machst? Wie ist dieses Zusammenspiel Regisseur-Ensemble?
K: Als Partner? Nein. Es gibt eine verschworene Gemeinschaft unter den Spielern, mit den Technikern, wenn die sich gut verstehen. Da gehört man als Regisseur nicht unbedingt dazu, nicht zwingend.
H: Wenn sie einen Kreis machen, bevor sie spielen.
K: Voilà, da bist du nicht mehr drin. So. Was ja auch richtig ist. Die sind zusammen auf der Bühne und die sind auch zusammen unterwegs. Natürlich ist es auch so: Das sind, waren fast alles Kollegen, Spielerkollegen von mir. Vielleicht gibt es einen kleinen Unterschied zwischen denen, die mich nie als Spielerkollegen gehabt haben und denen, mit denen ich noch zusammen auf der Bühne gestanden habe. Es ist ein anderes Respektverhältnis, würde ich mal sagen. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll.

H: In einer Personalklausur, vor einigen Jahren, beantwortete jedes Personalmitglied die Frage: Wenn die AGORA ein Schiff ist, welche Rolle hast du auf dem Schiff? Damals gab es keinen Kapitän.
K: Ja.
H: Wie siehst du das jetzt? Ist sie immer noch ein kapitänloses Schiff?
K: Nein. Damals gab es keinen Kapitän, weil es keine zwei Kapitäne geben kann auf einem Schiff. Das geht nicht. Konsequenterweise hat keiner gesagt, dass er der Kapitän ist. Vor zwei Jahren gab es die Umstrukturierung, sodass es jetzt nur noch einen künstlerischen Leiter gibt.
Und ich legitimiere diese Funktion daraus, dass es die einzige Funktion ist, die vom Forum gewählt wird. Natürlich, der Verwaltungsrat wird gewählt. Aber im alltäglichen Geschäftsleben und Agieren des Ensembles, ist die Position des künstlerischen Leiters die einzige, die nicht vom Verwaltungsrat bestimmt wird, sondern vom Forum. Das legitimiert das Kapitän-Sein.


H: Wir haben vor einiger Zeit über Leichtigkeit gesprochen. Macht dieses Kapitän-Sein deine Arbeit leichter oder macht es sie komplizierter?
K: Es macht es auf jeden Fall nicht komplizierter. Es macht es klarer.
H: Klarer, aber nicht unbedingt leichter?
K: Leichter, aber nicht in dem Sinne, dass ich das auf die leichte Schulter nehme. Es ist leicht Kapitän zu sein, es macht viel Spaß, es ist eine große Herausforderung, es ist mit viel Verantwortung verbunden (Stille). Und es ist auch nicht Kapitän im Sinne eines Piratenschiffs, wo der geringste Widerstand mit „Kiel holen" bestraft wird (Lachen).
MJ: Womit?
K: Mit vorne über Bord werfen und hinten wieder einsammeln. Es ist - und das ist auch gut so - ein Schiff mit einer sehr flachen Hierarchie, die sich auf viele Verantwortungsbereiche aufteilt, die von vielen Menschen wahrgenommen werden.
H: Es ist der Kapitän mit Unteroffizieren.
K: Offiziere, die ihren Bereich aber autonom leiten.
Kapitän. Vielleicht hinkt dieses Bild auch mittlerweile. Weil die künstlerische Leitung die Leitung nur der Produktherstellung dieser Firma innehat, sozusagen. Wenn ich das mal so mit Jürgens Worten sagen darf (lacht).

H: Du hast eben von Herausforderung, Verantwortung, Entscheidungen treffen gesprochen. Du musst viele Entscheidungen treffen, die den künstlerischen Weg der AGORA zeichnen. Bist du frei in diesen Entscheidungen? Welche Rolle ist deine und die des Verwaltungsrates in den künstlerischen Entscheidungen?
K:
Ich würde niemals - und das ginge auch gar nicht - Entscheidungen von großer Tragweite für die Agora alleine treffen. Das könnte ich gar nicht. So funktioniert es nicht, absolut nicht. Die Entscheidungen müssen ja auch umgesetzt werden, wenn sie getroffen wurden. Alles, was einen Impakt auf die Funktionsweise der Agora hat, wird im Verwaltungsrat besprochen und entschieden. Ihr habt beide Erfahrungen mit den Verwaltungsräten.
MJ: Mit der Funktionsweise. Die künstlerischen Inhalte betreffend nicht!
K: Nein, die künstlerischen Inhalte betreffend nicht. Der Weg ist so, dass Vorschläge oder Ideen, die an mich herangetragen werden, oder die von mir kommen, über den Verwaltungsrat ins Forum kommen. Die Vorschläge werden im Verwaltungsrat besprochen, bzw. mitgeteilt, bevor dann das Forum entscheidet, wofür sich die Agora in den nächsten zwei Jahren engagiert, welche Projekte sie angehen wird. Das sind generelle Entscheidungen. Die konkreten treffe ich dann - entweder zusammen mit dem Regisseur oder, wenn ich selber Regisseur bin, auch alleine bzw. zusammen mit den Personen, die an dem Projekt beteiligt sind: wie sieht die Besetzung aus, welche Mittel nutzen wir? All das, was die konkrete Umsetzung betrifft. Das wäre ein sehr träger Prozess, wenn das alles im Verwaltungsrat beschlossen und genehmigt werden müsste. Da hat sich mittlerweile ein System herausgeschält, das beginnt zu funktionieren: Mit der Budgetautonomie, die jedes Projekt hat; mit Verantwortungsbereichen innerhalb der Projekte; mit der Aufgabe der Produktionsleitung in ständigem Austausch mit der Geschäftsleitung oder Personalleitung finanzielle oder personelle Fragen zu klären.
H: Das war ein langer Lernprozess. Marcel machte das ja alles in einer Person?
K: Ja, mehr oder weniger. Ja.

MJ: Ich möchte da auch das Thema Künstlerische Freiheit hinzufügen. Das hat ja viele Facetten. Was bedeutet dieser Begriff für dich? Ist er eine Selbstverständlichkeit geworden? Ist er ein wertvolles Gut?
K: Das ist ganz klar ein wertvolles Gut! Keine Selbstverständlichkeit.
H: Dafür musst du auch immer kämpfen?
K: Ja. Aber nicht so, dass ich das Gefühl habe, mein Gott, was ist das ermüdend. Es muss oft in Erinnerung gerufen werden, dass es diese Freiheit gibt.
MJ: Bei wem in Erinnerung rufen?
K: Nun ja, ob das im Verwaltungsrat ist oder im alltäglichen Bürogeschäft. Das ist aber normal, glaube ich. Ist auch ganz in Ordnung. Ist nicht ermüdend, ist nicht anstrengend.
H: Umso wichtiger ist es, dass es immer wieder gesagt wird.
K:
Ja, auf jeden Fall. Und ganz konkret jetzt mit dem neuen Projekt. Es ist nicht sicher, dass dieses Projekt zur Premiere kommt. Weil wir gerade an einem Punkt sind, wo noch nicht klar ist, ob wir das schaffen. Oder, ob ich das schaffe, „Nein" zu sagen, bevor wir irgendwas auf die Bühne bringen. Das hat mit Qualität zu tun. Dann schaffen wir das eben jetzt nicht so. Diese Entscheidung gehört für mich zur künstlerischen Freiheit.
Und die Freiheit ist zu sagen: Wenn wir ein Projekt beginnen, wissen wir nicht, was es wird. Ob es Theater wird oder ob es überhaupt etwas wird. Die künstlerische Freiheit ist auch zu sagen: Wir haben anvisiert, ein Stück ab drei zu machen. Es ist aber gerade so wichtig und allen brennt es unter den Fingernägeln, etwas zu machen was nun wirklich nicht für Dreijährige ist, sondern erst ab 14. Das kann passieren. Und umgekehrt genauso.
MJ: In dem Moment bist du eine Schlüsselperson. Da geht es ja um ein Konzept.
K: Ja, und daraus haben wir, habe ich, viel gelernt. Die künstlerische Freiheit ist ein wertvolles Gut, aber keine Selbstverständlichkeit in dem Sinne, dass ich den Auftrag nicht ernst zu nehmen brauche. Wenn der Auftrag ist, ein Stück zu machen für Kinder ab drei, und man schon nach vier Probentagen sagt, wir machen jetzt was für Erwachsene, dann ist der Auftrag nicht ernst genommen. Wir müssen versuchen, so lange wie möglich den Stückauftrag so zu erfüllen, wie er vom Forum verabschiedet wurde. Irgendwann kommt vielleicht der Punkt, wo wir sagen: Jetzt müssen wir uns entscheiden, wir schaffen es nicht. Also entweder verzichten wir auf diese Ästhetik, die sich jetzt aufdrängt, die aber nichts für Dreijährige ist, oder aber wir schieben das beiseite und konzentrieren uns jetzt auf etwas, was wir jetzt nicht wirklich machen wollen. So.
Aber wir müssen es versuchen! Das ist so eine Gratwanderung. Bei „Flugversuche" war das zum Beispiel lange ein Thema. Da war der Auftrag, ein mobiles Stück zu machen für die Schulen, für die älteren Jahrgänge. Aber bei der Festlegung der Probentermine wurden nur dann Proben festgelegt, wenn der Marcel-Cremer-Saal frei war. Da habe ich interveniert und gesagt: „Es ist ein mobiles Stück. Du brauchst keinen Theatersaal um das zu proben."
Aber, um sich die Möglichkeit offen zu halten, probiert man mit Licht. Und dann probiert man mit Ton. Und dann probiert man mit Dunkelheit. Und dann auf einmal ist man im Theatersaal, das ist klar. Dann ist es zu Ende mit der mobilen Produktion. Jetzt ist es ein Stück, das sowohl auf der Bühne, als auch im öffentlichen Raum funktioniert.

MJ: Du sprachst von der künstlerischen Freiheit innerhalb des Ensembles. Muss man auch die künstlerische Freiheit nach außen erkämpfen?
K: Ja. Ganz konkret jetzt bei der Durchführung des TheaterFestes, zum Beispiel. Wo wir sehr glücklich waren, mit Chudoscnik Sunergia endlich einen gesprächsbereiten Partner gefunden zu haben, der gesagt hat, wir sind bereit darüber nachzudenken, mit euch ein TheaterFest zu machen. Wo im Laufe der Gespräche aber klar wurde, dass wir zuviel von unserer Freiheit aufgeben müssten, die wir uns erkämpft haben. Dass es dann nicht mehr dem entspräche, was wir eigentlich wollen mit dem TheaterFest. Deshalb die Gespräche zu beenden und zu sagen: Wir verstehen euer Anliegen und wir wollen, dass ihr unseres versteht, aber die gehen nicht zusammen, verabschieden wir uns in Freundschaft von der gemeinsamen Projektidee. Das hat viel mit künstlerischer Freiheit zu tun. Weil die künstlerische Freiheit leider oft im Widerspruch steht zum Lukrativen. Weil Kunst halt oft eher mit Geld ausgeben zu tun hat und nicht unbedingt mit Geld verdienen.

H: Als die ersten Gespräche mit Chudoscnik anfingen, warst du für mich der Garant, dass das TheaterFest nicht verwässert. Es ist nicht immer möglich, gute Kompromisse zu finden. Die AGORA und die Öffentlichkeit brauchen diese klare Haltung, dieses Nicht-Kompromisse-Eingehen-um-jeden-Preis, vom künstlerischen Leiter. Das erfahre ich bei dir.
K: Ja, das freut mich.
H: Für mich ist es etwas Elementares. Früher, mit Marcel, gab es oft Überlegungen hinsichtlich des Verwaltungsrates und auch hinsichtlich der DG. Das war zeitweise ein Gespenst: Irgendwann entscheiden andere darüber, was die Agora macht. Und das kann sehr schnell gehen.
K: Natürlich geht das sehr schnell. Wir werden zurzeit, im Vergleich auch zu anderen produzierenden Theater im In- und Ausland, sehr gut gefördert. Von der Politik - nicht von der Kommunalpolitik, das möchte ich klar abtrennen, sondern von der Regionalpolitik - wo wir jetzt Möglichkeiten haben, die wir vor fünf Jahren noch nicht hatten. Was zur Folge hat, dass wir massiv darüber nachgedacht haben und nachdenken, was können wir noch alles machen, worin sehen wir unseren Auftrag, auch hier in unserer Gegend? Was wollen wir noch alles auf die Beine stellen?


H: Du sprichst vom Kulturkonzept?
K: Ich rede vom Kulturkonzept. Ich rede von den vielen Bereichen im Umfeld der AGORA, die entstehen. Die Theaterpädagogik, „AGORA gibt Raum", das TheaterFest - jetzt wieder neu. Nachwuchsförderung ist ein neuer Begriff innerhalb der AGORA. Die Junge AGORA ist natürlich auch da angelegt und die löst sich in meinen Augen langsam von der Theaterpädagogik, sie wird ein eigenständiger Bereich.
Nur: Wir kreieren im Moment permanent eigenständige Bereiche, Betätigungsfelder. Wir haben die Theaterpädagogik, die als Satellit um die AGORA kreist; „AGORA gibt Raum" als Nachwuchsförderung oder als Möglichkeit für andere Gruppen zu arbeiten; jetzt die Gründung einer VoG, die ansteht und die das TheaterFest regelt. Das sind zahlreiche Entwicklungen, da müssen wir irgendwann auch Entscheidungen treffen.
H: Weil das Gefahren bergen kann?
K: Was wollen wir damit? Sind wir jetzt eine neue Form des INED, die auch ganz viele Organisationen geboren hat und die das Ziel hatte, dass diese dann irgendwann auf eigenen Füßen stehen? Sind wir das? Oder wie wollen wir, dass die Nähe bestehen bleibt zur Theaterpädagogik, zu der VoG?
H: Es ist ja nicht die Haltung „Das machen wir auch noch", die uns weiterbringt.
K: Nein.

MJ: Hast du eine Vision?
K: Auf jeden Fall habe ich eine Vision. Meinst du, wo ist die AGORA in fünf, in zehn Jahren?
Zuerst ist es die Vision der Anerkennung im eigenen Zuhause. Die ist für mich jetzt gerade sehr zentral. Jetzt würde ich mir so sehr wünschen, dass die AGORA als Partner und als Bewohner des Triangels wahrgenommen wird. Dass die politischen Verantwortlichen der Stadt Sankt Vith stolz auf uns sind. Dass sie stolz darauf sind, ein produzierendes Ensemble, international agierend, in ihren Reihen, in ihrer Stadt zu haben. Meine Vision ist, dass der Marcel-Cremer-Saal dazu dient, Kunst zu produzieren und nicht nur als Veranstaltungsort fungiert. Dass das Triangel als Kreativ-Ort etabliert wird. Da entsteht Kunst und Kultur, da wird nicht nur veranstaltet. Dass wir mit unseren Stücken so viele Zuschauer erreichen, wie möglich. Und auch, dass wir in zehn Jahren wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Begriffe wie Kindertheater, Jugendtheater, Erwachsenentheater verschwinden, dass diese Schubladen verschwinden. Dass man sagt, es gibt Theater für Menschen ab einem gewissen Alter. Dass die Wertschätzung des Kinder- und Jugendtheaters endlich nach dreißig Jahren harter Pionierarbeit auch in die Köpfe der Menschen ankommt, die immer noch denken, dass diese Theaterform nicht wirklich Theater ist.


H: Das ist ja schon ein alter Traum. Wann hat Marcel angefangen, für diese Visionen zu kämpfen? Ist das vielleicht das Geheimnis von Energie und Motor und muss es so sein, dass es nicht schnell erreicht wird?
K: Wenn man das zu Ende denkt, dann dürften wir es ja nie erreichen, denn dann wäre der Motor aus. Ich weiß es nicht.
Ich sehe die Möglichkeiten, die daraus entstehen würden. Angenommen, wir hätten diese Akzeptanz innerhalb der Stadt, innerhalb der Gemeinde.
H: Was wäre dann anders?
K: Die Möglichkeiten, die sich bieten würden. Z.B. ein TheaterFest zu gestalten in Partnerschaft mit einer Stadt, die nicht zu den ärmsten Gemeinden des Landes gehört. Mit dem Triangel und mit arsVitha könnten wir eine ganze Stadt zu einem großen TheaterFest machen. So wie es in anderen Regionen geht. Das sind ja keine Utopien, das gibt es ja schon. Wenn in Nantes die Maschinisten durch die Gegend ziehen mit ihren riesigen Elefanten. In Frankreich arbeitet ein ganzes Dorf an einem internationalen Theaterfest mit. In einem riesigen Steinbruch wird ein ganzes Stück veranstaltet mit allen Dorfbewohnern zusammen. So was. Das sind doch wunderschöne Perspektiven.
H: Muss man also warten, bis die letzten, ewigen Gegner ausgestorben sind?
K: Mittlerweile muss man schon einiges aussitzen. Ohne dass es Resignation bedeutet.
Ich wäre von daher nicht unglücklich, wenn wir die Visionen erreichen würden. Für die Möglichkeiten die sich öffnen. Es mangelt nicht an Zielen.
H: Also die Möglichkeiten haben, aber nicht an den Zielen ankommen.
K: Wir möchten nicht, dass wir im Triangel „ankommen" im Sinne von uns da festsetzen und einnisten. Es ist nicht das Ziel, die Menschen aus Brüssel zu bewegen, ins Triangel zu kommen um unsere Stücke zu sehen. Wir wollen immer noch zu ihnen hin.

MJ: Welchen Platz gibst du dem Theater in der Gesellschaft? Warum ist Theater wichtig? Das ist ja eine allgemeine Frage.
K: Das ist die wichtigste Frage überhaupt. Und die wir uns beantworten müssen. Die wir uns stellen müssen. Und die kann auch jeder nur für sich selbst beantworten.
Theater ist für mich wichtig, weil es in jungen Jahren eine Entdeckung war, auf einmal festzustellen, dass es etwas innerhalb meines eigenen Kulturkreises gibt, mit dem ich etwas bewirken kann. Ich kann aktiv gestalten. Nicht nur Stücke. Ich kann Menschen verändern. Im positiven Sinne. Ich kann aus einem traurigen Gesicht ein fröhliches machen. Ich kann etwas tun, worüber ich nachher mit jemand tief reden kann. Und das könnte ich nicht, wenn ich das vorher nicht auf der Bühne getan hätte. Ich kann nach einem Stück mit einem Zuschauer sprechen über das, was er gesehen hat und es entsteht ein tiefes Gespräch, das nicht nur ihn, sondern auch mich wieder verändert. Und das ist für mich eine hochpolitische, hochbefriedigende Arbeit und Lebensweise. Das ist mehr als eine Arbeit, Theater, das ist eine Form zu leben. Und von daher ist Theater für die Gesellschaft wichtig. Weil es - unabhängig von den Möglichkeiten des Theaters den Zuschauer, den Menschen in eine andere Welt zu entführen - die Entwicklung der Welt vor Augen führen kann. Außerdem interessiert mich, mit dem Theater ein Instrument zu haben, die Welt zu gestalten und zu einer besseren Welt zu machen. Das klingt genauso allgemein wie die Frage, aber es ist genauso ernst gemeint.
Und es ist auch ganz konkret, jetzt wo ich zwei Kinder habe, ich bin sicher, dass sie irgendwann kommen werden und fragen „Was hast du denn gemacht? Du hast es doch gesehen. Du kannst doch nicht leugnen, dass das den Bach runter gehen musste, so wie ihr euch verhalten habt. Und was hast du dagegen gemacht"? Dann habe ich zumindest den Ansatz einer Antwort.

 

Kurz nachgefragt:

Kurt, wann hast du zuletzt


...zuhause renoviert?
K: Renoviert? Hast du mit Viola gesprochen? (lacht) Oh mein Gott! Ich habe noch nie zuhause renoviert. Ich kann das nicht. Ich habe mal ein Regal aufgebaut.


...einen spannenden Film gesehen?
K: Oh, das ist noch gar nicht so lange her. Das war eine Serie, House of cards, eine Serie über Macht, Korruption, Machtmissbrauch, sehr dicht an der Realität.


...Eno gebadet?
K: Letzten Sonntag


...aufgewacht mit dem freudigen Gedanken, „Was für ein Tag!"
K: Gestern vor eine Woche. Da sind wir mit Vio und Eno nach Berlin zur Premiere von Ania gefahren. Es war unser erster Abend zu zweit, Eno war bei Gitti und Marie ist bei Oma und Opa in Köln geblieben.


... Damit beantwortest du auch schon die nächste Frage ... dein letztes Tête à Tête mit Viola
K: (lacht) Das war letzten Donnerstag in Berlin.


...so richtig geflucht in der Theaterarbeit?
K: O Mann. Innerhalb der letzten Probenwoche habe ich in der Künstlerwohnung geflucht wie ein Rohrspecht über die kommunale Politik (lacht).

 

 

Kurt Pothen wurde am 18. August 1969 in Malmedy (B) geboren. Er studierte Geschichte und Germanistik in Köln. Mit 18 spielte er erstmals in der AGORA, war seitdem Spieler, Techniker, Regisseur. Künstlerischer Leiter der AGORA ist er seit 2010.
Er inszenierte „Nebensache" (Bagatelle) von Jakob Mendel und Gitte Kath, „Der Lügensammler" (Le collectionneur des mensonges), „Die Harmonie der Gefiederten" (L'Harmonie de la Gent à Plumes) von Jean Lambert, „Die lebendigen Toten - Les morts vivants".
Auf dem Festival „Rencontres Théâtre Jeune Public" 2015 in Huy wurde "L'Harmonie de la Gent à Plumes" mit dem Preis der Unterrichtsministerin der Französischen Gemeinschaft, Joëlle Milquet, und dem „Coup de Coeur" der belgischen Presse prämiert. „Der Lügensammler" erhielt 2013 den Kölner Theaterpreis.
Kurt Pothen lebt mit Viola Streicher und den gemeinsamen Kindern Marie (3) und Eno (1) in Köln.

 

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