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16.12.2014
Hubert Roland: Kriegslyrik - im vollen Wortlaut

KRIEGSLYRIK (als pdf)

 

Im Dezember 1927 wurde Hinkemann, die Skandaltragödie des expressionistischen Schriftstellers Ernst Toller, vier Jahre nach seiner Erscheinung in Deutschland in Brüssel uraufgeführt. Die ergreifende Geschichte des kriegsheimkehrenden Soldaten Hinkemann, dessen Genitalien im Kriege weggeschossen wurden und dessen Ehefrau zu diesem Zeitpunkt ein Kind von einem seiner Freunde erwartet, wurde damals von der belgischen Kritik wohlwollend rezipiert. Unter anderem beschrieb Max Deauville, der Autor des bekannten Kriegsromans La boue des Flandres (1922), Hinkemanns Schicksal  als „einen so schmerzhaften und ergreifenden Schrei, dass allein diejenigen, die die große Tragödie der modernen Welt erlebt haben, dessen volle Angst und Not empfinden können [...]" („un cri si douloureux et si poignant que seuls ceux qui ont réellement vécu la grande tragédie du monde moderne en peuvent ressentir toute l'angoisse et toute la détresse [...]." [1] Indem Deauville, der vier Jahre als Kriegsarzt an der Front verbracht hatte, nachdrücklich betonte, dass das menschliche Leid stärker als alle nationalistischen Begeisterungen und alle Ideologien sei, wollte er einen Elan der menschlichen Überwindung des Konflikts bzw. der Versöhnung mit dem Feind von gestern manifestieren, in diesen 1920er Jahren, die in den frankophonen Ländern noch durch lebhafte anti-deutsche Gefühle geprägt waren.

 

Die folgende szenische Lesung von deutschsprachiger und französischsprachiger Kriegslyrik bestätigt eine historische Feststellung, die im vereinten Europa heutzutage nicht mehr in Frage gestellt wird, nämlich dass im „Großen Krieg" alle Soldaten aus allen Nationen eine einzige Gemeinschaft von Opfern des allein herrschenden Nationalismus gebildet haben. Neben den zahlreichen anderen Zeugnissen und literarischen Verarbeitungen, die bis heute noch die Erinnerung an diese epochale Katastrophe pflegen, verinnerlicht die Kriegslyrik die Perspektive der erlebten Wirklichkeit und der unüberwindbaren Traumata, die das Schicksal einer ganzen Jugend gebrochen haben. In der Vielfalt der Veranstaltungen, die des Kriegs als militärisch-politischen Ereignisses gedenken, stellt sich ein menschliches Pendant, das die tiefen Auswirkungen des Kriegs als persönliche Tragödie veranschaulicht, als besonders notwendig heraus.

 

Dabei hat die internationale Dichtung zum Krieg durchaus einen historischen Wert. Nicht nur bildet sie also eine Gattung sui generis, die das Kriegserlebnis anhand besonderer Bilder und ästhetischer Verfahren umsetzt und verwandelt, sodass die Idee einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung des Kriegs unklar wird.[2] Sie verkörpert ja auch alle höchst ambivalenten und kontradiktorischen Gefühle, die Schriftsteller im Laufe der Jahre gegenüber dem Krieg empfunden haben. Die Stimmen, die sich wie die des belgischen Dichters Paul Dermée ab 1916/1917 als revoltierenden Schrei gegen das sich verewigende „Blutbad" (carnage) erhoben, stellten nur den späteren Stand einer Gattung dar, die ursprünglich verherrlichend geprägt war. So hatte Guillaume Apollinaires aus heutiger Sicht ungewöhnliche Rhetorik der „Wunder des Kriegs" an einer Literatur der Moderne Anteil, die die als kränklich angesehene Gesellschaft der Vorkriegszeit seit einigen Jahren „reinzuwaschen" beabsichtigte.

 

Aus solchen zivilisatorischen Gründen, die nicht unbedingt mit blindem Patriotismus, sondern eher mit einem gewissen „Weltschmerz" zu tun hatten, meldete sich Apollinaire - wie übrigens Deauville, Toller und die überwiegende Mehrheit der jungen Generation auf allen Seiten - als Kriegsfreiwilliger. Schon vor dem Sommer 1914 hatten sie wie Ernst Stadler oder Ernst Wilhelm Lotz von einem großen „Aufbruch" geträumt und ihn als Ode an das Leben visionär-dichterisch gestaltet. Der „Haß bis zum Enthusiasmus" von Albert-Paul Granier wird hier zum Erlebnis einer inneren Notwendigkeit, die von jeder konkreten Kriegssituation abgekoppelt wird. Es gilt nur die „Fahrt in eine neuere Epoche" als Ausdruck eines Unbehagens, das die erdrückende bürgerliche Welt bei der Jugend ausgelöst hatte.

 

Doch es nahte nicht die ersehnte Erlösung, wie wir jetzt wissen, sondern es lauerte nur ein sich perpetuierender „Totentanz", von dem niemand eine Vorstellung hatte. Die Ästhetisierung des Kriegs stellt sich immer mehr in den Dienst eines ironischen Pathos, der wie bei Hugo Ball die „Wir"-Stimme der sterbenden Soldaten gegen die Gnadenlosigkeit des Kaisers und des Militärs anklagend richtet. Die Kriegslyrik als „Erlebnisdichtung" wird andererseits der Anlass zum Sprachexperiment mit der Form und mit modernistischen Schreibtechniken. Die experimentelle Wortdichtung von Ball, August Stramm oder die literarische Collage von Otto Nebel in Zuginsfeld charakterisieren sich durch eine extreme „Sprachverknappung", die die kahle Wirklichkeit des Soldatenlebens im Schützengraben widerspiegeln soll. Auch in der französischen Dichtung wie etwa in François Porchés Poème de la tranchée wird kein Wort zu viel gesprochen und die Ausdruckskraft der Sprache intensiviert.

 

Das Spiel mit Bildern und Formen schafft eine Distanz zwischen dem kämpfenden Schriftsteller und seinem lyrischen Ich, die es ihm erlaubt, eine freie, innere Welt der Phantasie zu imaginieren. Doch ein solches ästhetisches Vergnügen kann ihn im Laufe der Jahre nicht mehr trösten und der Krieg wird immer mehr zum „großen Nichts", das allein eine verzweifelte Müdigkeit zur Folge hat. Zwischen den Kämpfen herrscht Langeweile, während immer mehr Kampfgenossen an Nervenzusammenbrüchen leiden. Sowohl Wilhelm Klemms Beschreibungen eines Lazaretts als auch Pierre-Jean Jouves oder Ernst Tollers pathetische Skizzierungen von Leichen werden nicht erträglicher, indem sie sich wiederholen. Die unmittelbare, schockhafte persönliche Erfahrung der Front führt allmählich zu einer Haltung der Opposition, die in Aktivismus und Kriegsverweigerung münden wird. Die mehr oder weniger versteckten Metaphern, die schon früher eine solche Anschauung verrieten (wie Albert Ehrensteins Kriegsgott, der seine Kinder zerfrisst), entwickeln sich zu einer kriegsverneinenden „Poesie des revolutionären Appells"[3]. So lautet unter anderem der 1917 veröffentlichte Aufruf zum Kampf von Marcel Martinet, der nach dem tragischen Scheitern der Arbeiterinternationale mit dem Kriegsausbruch nun zum Anstoß einer neuen Verbrüderung in der kommenden Revolution klingt. Bemerkenswert sind schließlich noch die weiblichen Stimmen, die sich zum Krieg äußern: Die Klage von Anna de Noailles gegen die Absurdität der „Toten, die die Lebenden ermorden" und das quasi feministische Manifest „Elles" von Henriette Sauret, das mit anklagenden Tönen den Krieg als männliche Ordnungswelt, die die Frau absichtlich unterwirft, entlarvt.

 

Die von der Theatertruppe Agora für diese Veranstaltung ausgewählte Anthologie bietet in ihrer Vielfalt eine facettenreiche Übersicht über ein komplexes literarisches Phänomen. Im Sinne des abschließenden Mottos Non, non, plus de combat verdient sie jede Achtung und Aufmerksamkeit.

 

Hubert Roland

F.R.S.-FNRS/ Université catholique de Louvain



[1] Max Deauville, „Les théâtres à Bruxelles", in La Renaissance d'Occident, Bd. 24, Februar 1928, S. 9.

[2] S. Georg Philipp Rehage, ‘Wo sind Worte für das Erleben‘. Die lyrische Darstellung des Ersten Weltkriegs in der französischen und deutschen Avantgarde (G. Apollinaire, J. Cocteau, A. Stramm, W. Klemm), Heidelberg, Winter, 2003.

[3] Hermann Korte, Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn, Bouvier, 1981, S. 190ff.

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