Herzschlag des Theaters
Ein Lügensammler ist er immer gewesen. Marcel Cremer, Leiter der Agora, des Theaters der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, und einer der großartigsten Theatermacher Europas, der im Dezember 2009 in Köln verstarb. Er hat die Lügen, die sich unsere Zeit erzählt, aufmerksam gesammelt, um sie uns auf der Bühne wieder vorzusetzen.
Nach seinem Tod stellte sich unweigerlich die Frage, ob die Agora weiter auf gleichem Niveau würde produzieren können. Jetzt gab sie mit der Kölner Premiere von „Der Lügensammler" in der Studiobühne die Antwort. Wieder erweist sich ihre Ästhetik als ungewöhnlich und vollkommen überraschend. Wieder gehen die Geschichten tief unter die Haut. Und wieder bekommt man ein Bühnenbild zu Gesicht, das die poetischen Träume dieser Truppe um eine kleine Sensation erweitert.
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Weiland findet für all das Bilder, Gesten, Körperhaltungen, die so genau beobachtet sind, dass wir sie sofort aus dem eigenen Leben wiedererkennen. Es wird viel gelacht in dieser Inszenierung, die hinter Masken und Gardinen viel Dunkelheit und zum Teil gleißenden Zynismus enthüllt. Eine Inszenierung für Menschen ab 13, in der man den Herzschlag des Theaters spüren kann, vollgepackt mit Bildern, die sich in die Erinnerung einschreiben.
Kölnische Rundschau vom 20.06.2013 (Thomas Linden)
Unter die Haut geht das, was das Jugendtheater Agora aus dem belgischen St. Vith mit der Studiobühne Köln gestern in zwei Aufführungen für Schülerinnen und Schüler zur "Kulturherbst"-Eröffnung im Hüttenhaus Herdorf auf die Bühne gebracht hat. "Der Lügensammler" erzählt zum Beispiel von Seppi, der auf Jungs steht und auf einmal so gar nicht mehr ins Dorf passt (obwohl der Firmenchef, was alle wissen, auch den "Bürschchen" zugetan ist...), oder von Paul, der sich heimlich Pornoheftchen aus dem Altpapier klaubt (aus dem Müll des Küsters...), und vom Weihnachtsmann (besoffen) zur Schnecke gemacht wird.[...]
"Der Lügensammler" fordert mit seinen Geschichten heraus. Seine Frage nach der Verantwortung für das eigene Handeln klingt nach.
Siegener Zeitung vom 6.09.2013
Jetzt zeigt Kurt Pothen in einer Koproduktion mit der Studiobühne den „Lügensammler", dem er einen wunderbaren Text und eine präzise, ideenreiche Regie geschenkt hat. Und er beweist, dass die Quadratur des Kreises möglich ist. [...]
Dieser Matthias Weiland besitzt für alles eine Gestalt, für die Zartheit und den Zorn, für die Scham, die Freude und die Trauer. Man sieht, wie er sich vor unseren Augen verändert, das ist großartig und beängstigend, weil wir die Gesten und Körperhaltungen, die er uns zeigt, aus dem Alltagsleben wiedererkennen. [...] Man erfährt viel über die Lüge: Zum Beispiel, dass sie ein Teil unseres Lebens ist, dass ohne sie kein gesellschaftliches Gebäude entstehen kann. Aber hier bleibt man nicht bei den Lügen der anderen stehen, sondern richtet den Blick auf die eigenen, sie werden aufbewahrt und man sieht, dass ihnen auch Schönheit innewohnt.
Die Inszenierung ist so angelegt, dass man immer wissen will, was als nächstes geschieht und welche Grenzen noch überschritten werden. Mit jeder Produktion bietet uns die Agora ein Bühnenbild, das unseren Vorstellungen von einem poetischen Raum ein neues, ungeahntes Exemplar hinzufügt. So ist es auch diesmal, „Der Lügensammler" präsentiert sich als eine Fantasie von dem, was das Theater auch sein kann. Doppelbödig wie die Geschichte stellt sich der Bühnenraum dar, der mit dem Schlussbild einen zweiten Raum freigibt, denn die vielen Gläser gibt es wirklich, man kann sie nach der Vorstellung persönlich in Augenschein nehmen. „Der Lügensammler", das ist eine Installation, ein Kunstwerk, eine Kostbarkeit im Schatz unserer Erinnerung.
Auszug aus der Laudatio zum Kölner Theaterpreis von Thomas Linden
--> hier können Sie die komplette Laudatio herunterladen